Donnerstag, 11. Juni 2009

thomas mann »der zauberberg« gesehen am 8.6.09 - schauspielhaus dresden - letzte vorstellung

»Merkt auf, jetzt fängt die Geschichte an, und wenn sie zu Ende erzählt ist, wissen wir mehr als jetzt«, so lässt es sich leicht verführen in eine Geschichte, die nicht zufällig wie ein Märchen beginnt. Denn hier kommt man an einem sonderbaren Ort an, der weit abgelegen, viele hundert Meter über dem Meeresspiegel ein ganz anderes Klima zum Atmen bietet und nicht zufällig »Zauberberg« heißt. Hier landet man in einem großen Speisesaal, in dem sich lauter skurrile Menschen versammeln, deren Lungen das andere Klima denn auch bitter nötig haben. Und in dieser merkwürdigen Abgeschlossenheit kann es einem passieren, dass man statt geplanter vierzehn Tage ganze sieben Jahre hier oben verweilen wird – und nicht nur aus Krankheitsgründen. Wie Hans Castrop, der eigentlich nur zum Besuch seines lungenkranken Vetters angereist war, schnell aber die Zauberformel auf diesem Berg findet: Man ändert hier seine Begriffe. Wer sich für ein Bleiben auf dem Berg entschlossen hat, wird dafür reichlich belohnt. Eben wie in einem Märchen. Man reist durch glitzernde Bergmassive, genießt die verströmende Kälte und tanzt auf zugefrorenen Eisflächen. Dabei begegnet man Zwergen, schönen Russinnen, italienischen Aufklärern oder vitalen holländischen Kaffeepflanzern. Und hat das Gefühl, dass diese Reisen und alle Begegnungen nie mehr aufhören werden. Zeit und Pflicht, Ordnung und Disziplin scheinen sonderbar aufgehoben. Wie verstoßen weiß man am Ende dann vielleicht ein wenig mehr: über das Leben, den Tod, den Tag, die Nacht, das Wachen und das Träumen.
»Der Zauberberg« von Thomas Mann ist der ideale Zauberstoff für die Bühne – und liegt denn nun auch endlich in einer eigens für die Bühne bearbeiteten Fassung vor. Nichts hat er darin verloren von der Mystik und Abenteuerhaftigkeit des großen Lebenspanoramas, das Thomas Mann in seinem Roman auf wunderbare Weise entfaltet.

Regie Holk Freytag
Bühne und Kostüme Mayke Hegger
Komposition und Musikalische Leitung Otto Beatus
Choreografie Anne Retzlaff
Mit Christine Hoppe, Vera Irrgang, Regina Jeske, Marianna Linden, Iris Maier, Gerlind Schulze, Friederike Tiefenbacher, Helga Werner, Frank Genser, Dirk Glodde, Holger Hübner, Lars Jung, Jochen Kretschmer, Günter Kurze, Philipp Lux, Viktor Tremmel und Komparserie
Musiker Maria Geißler, Christine Seifert und Dietrich Zöllner


Theaterrezension
Von Heinz Arnold, Dresden
unter: http://www.theaterportal.de/rezensionen_arnold#zauberberg

Der Zauberberg
Dresdner Schauspielhaus
Premiere am 22. März 2003, Wiederaufnahme in der Spielzeit 2004/5
Es ist natürlich ein Wagnis, eine Bühnenversion von Thomas Manns „Zauberberg“, einem tausendseitigen, tiefsinnigen Roman, herzustellen und in Szene zu setzen. Die Künstler des Dresdner Staatsschauspiels stellten sich dieser Aufgabe, griffen nach einer Bearbeitung von Vera Sturm und Hermann Beil, und unter der Regie von Holk Freytag entstand eine interessante und sehenswerte Inszenierung – mit Zwischenmusik (Otto Beatus) und einer Tanzeinlage (Anne Retzlaff).

Als „Kultur- und Epochenroman“ hat Thomas Mann das Werk bezeichnet, und auch der Begriff „intellektueller Roman“ stand ihm zu Gebote. Diese Bezeichnungen verweisen auf die geistigen, besonders die kultur- und moralphilosophischen, aber auch auf medizinische sowie soziale Leitlinien, die den Romane durchdringen, und sie beziehen sich auch auf die diesem Werke eigentümliche essayistische Substanz. Dem Schriftsteller gelingt es, durch wissenschaftlich aufbereitete Stoffe, Vorträge zum Beispiel oder Beiträge in öffentlichen Diskussionen oder privaten Unterhaltungen, zur Charakterisierung der sprechenden oder zuhörenden Figuren beizutragen, und die beiden Bearbeiter nutzen diese Elemente zum Aufbau dramatischer Szenen.

Hans Castorp. der aus einer hanseatischen Familie stammende Absolvent eines Technikums, ist mannigfaltigen gelehrten Einflüssen ausgesetzt. Er will für drei Wochen seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen in einem graubündner Sanatorium besuchen, bleibt dort aber sieben Jahre lang. Der Berghof kann als Blocksberg, als Venusberg, als Hades oder als Tollhaus erlebt werden. Hans Castorp selbst fühlt sich oft als Sorgenkind, als „Zögling“ einer „pädagogischen Provinz“, der am Ende seines Aufenthalts in den Bergen unvergleichlich mehr weiß und kennt als am Beginn. Schon nach kurzer Dauer glaubt er, „älter und klüger geworden“ zu sein.

Das Theaterstück arbeitet mit der Erzählerfiktion, genauer gesagt: mit vier Erzählerinnen (Regina Jeske, Helga Werner, Gerlind Schulze, Marita Böhme), ihres Zeichens Patientinnen, die mit Hans Castorp auf dem Berghof gelebt haben und die überlebt haben. Wie Schicksalsgöttinnen vermelden sie die Ankunft Hans Castorps und seinen Auszug in den Krieg. In anderen Handlungsteilen gehören sie zu den wechselnden Gruppen von Patienten, die sich essend, trinkend, schwatzend im Speisesaal befinden und eine ständige Kulisse für die dialogisierenden Kontrahenten bilden. Das Bühnenbild mit breiten Fensterfronten und Blick auf ein gewaltiges Bergmassiv besitzt echten Schauwert (Bühne und Kostüme: Mayke Hegger). In einigen anderen Kurzszenen banalen, skurrilen bzw. makabren Charakters werden andere Nebengestalten vorgestellt und der Zuschauer bewegt sich weiter in die Atmosphäre des Zauberberges hinein. Castorp lernt einen Patientenkreis kennen, die den Zynismus gegen sich selbst kehren und einen „Verein halbe Lunge“ gegründet haben. Andererseits erscheint ihm Frau Tous-les-deux (Anja Brünlinghaus), die ihre beiden todkranken Söhne pflegt, als eine Verkörperung des Todes.

Der erste Problemkreis in Castorps weltanschaulicher Erziehung, der mit den Stichwörtern Leben, Liebe, Krankheit und Tod umschrieben werden kann, wurde relativ ausführlich vom Buch in die dramatische Adaption übernommen. Eingehend kommen Assistenzarzt Krokowski und der Chef selbst, Hofrat Behrens, zu Wort. Krokowski hält einen Vortrag über Liebe und behauptet, „Krankheit ist verwandelte Liebe“, und Behrens, mit dem Castorp viele Gespräche führt und sich als alter Angestellter des Todes weiß, bringt es auf die Formel: „Leben ist Sterben“. In der Darstellung durch Lars Jung tritt der Hofrat souverän, niemals aber blasiert auf. Er ist ein gewandter Gesprächspartner, weiß über menschliche Gebrechen in aller Offenheit und auch taktvoll zu sprechen und lässt erkennen, dass er selbst Antworten sucht. Sein Assistent (Günter Kurze) fühlt sich ganz als Adept der damals neumodischen Psychoanalyse und ist voller Stolz, von sich und seiner Wissenschaft überzeugt Als strenge Wahrerin des Anstaltsregimes ist die Oberschwester Fräulein von Mylendonk (Christine Hoppe)) allgegenwärtig.

Der Konzentration auf das Wesentliche willen entfielen Krokowskis spätere Aktivitäten, die auf spiritistische Sitzungen gerichtet sind. Castorp wird von anderen Lehrmeistern in Anspruch genommen. Der kämpferische, temperamentvolle italienische Scrittore Settembrini, geprägt vom politischen Risorgimento seines Heimatlandes und mit der progressiven Weltliteratur vertraut, will ihn erziehen zu einer dem Leben aufgeschlossenen, fortschrittsfreudigen, humanistischen Persönlichkeit.. Holger Hübner gestaltete diese Rolle mit Witz und Eindringlichkeit. Streitgespräche entstanden dabei nicht, weil der ebenbürtige, kompromisslose Gegenspieler fehlte. Die Rolle des Jesuitenprofessors Naphta, ein Totalitarist, der vehement Krieg und Terror fordert, war gestrichen worden, bis auf ein kurzes Statement, das allerdings Dirk Glodde mit Bravour über die Rampe brachte. Der Ausgang des Duells, von dem nur ein einziger Schuss zu hören war, fiel ebenfalls weg, und so wurde der Hinweis darauf unterschlagen, welche persönlichen Konsequenzen die beiden Gegner in einer Entscheidungssituation aus ihrer jeweiligen Weltanschauung gezogen haben.

(In der dramatischen Adaption einer epischen Vorlage kann der Weg des Helden nicht eins zu eins dargestellt werden. Auch empfindliche Amputationen müssen erlaubt sein. .Auf manches kann nur hingewiesen, anderes nur zitiert werden. Bedauerlich bleibt aber in diesem Falle die empfindliche Beschädigung des strukturbildenden Gerüstes.)

Fast einen permanenten Soloauftritt hatte Jochen Kretschmer als Mynherr Peeperkorn. Er gestaltete eine ungewöhnliche Sicht auf die Figur. Der imposante Lebenskünstler kommt als todkranker Mann in das luxuriöse Sanatorium. Sein materieller Reichtum erlaubt es ihm, üppige Feste zu finanzieren. Doch er will auch Liebe geben und Freundschaften schließen. Er verliert sich dabei nicht in senile Geschwätzigkeit, und der Schauspieler betont die Haltung und Disziplin, welche die Figur in ihren letzten Lebensmonaten an den Tag legt.

In den ersten Gesprächen mit Vetter Ziemßen (Michael Pyter spielt ihn sehr kompetent) als das Greenhorn aus dem Flachland, das nicht einmal seine tatsächlichen oder vermeintliche Krankheiten benennen kann. In der Folgezeit erweist er sich sehr aufgeschlossen für Bildungsgüter und Erfahrungstatsachen und wem
dieser Prozess sehr lange dauert, der erinnere sich einer Bemerkung Jean Pauls, nach der Bildungsromane deshalb so lang seien, weil Mentor und Zögling nichts versäumen und auslassen wollen. Auch die Liebe spielt in Castorps Entwicklung eine Rolle, wenn auch Tessa Mittelstaedt als Clawdia Chauchat der endgültige Abschied von Castorp viel besser gelang als die reizlose Verführung. Und noch zwei Anmerkungen. Je klüger Hans Castorp wurde, desto besser und geradezu überragend qualifizierte sich die künstlerische Leistung von Philipp Lux. Der mittlere Held, so hätte Goethe gesagt, wird in das reale Leben entlassen. In einem groß angelegten Schlussbild der Dresdner Inszenierung erscheint eine durch „pädagogische Selbstdisziplinierung“ in Jahren gereifte Persönlichkeit in ihrer tiefen Erniedrigung, im Krieg als Soldat in schlechtsitzender feldmarschmäßigen Montur und mit der Gasmaske.

Die Premiere fand am 22. März 2003 im Dresdner Schauspielhaus statt. Die Inszenierung wird in die Spielzeit 2004/2005 übernommen.

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